Meine kostenlose Kurzgeschichte der Woche
An dieser Stelle präsentiere ich Ihnen im wöchentlichen Wechsel die (kostenlose) Kurzgeschichte der Woche, auch als Pdf-Download.
Im Archiv können Sie dann auch stöbern und "alte" Kurzgeschichten lesen und anhören oder hier kostenlos und werbefrei erhalten >>
Hier die aktuelle Kurzgeschichte der Woche (auch als Download Pdf >>) :
Die Essenz des Lebens
Dieses Institut der weltweit führenden technischen Hochschule, das sich in meiner Geburtsstadt befindet, in der ich immer noch wohne, ist besonders abgesichert.
X.7206 steht am Eingangsschild. Eintritt nur über eine Pin-Tastatur. Wer dann glaubt, Zutritt erlangt zu haben, täuscht sich gewaltig. Denn vor der nächsten Sicherheitsschleuse ist eine Apparatur eingerichtet, die Augenhintergründe und allfällige seelische Abgründe scannt. Werden solche festgestellt, ist ein Eintritt lebenslang gesperrt, in einer Sicherheitsdatei auf ewige Zeiten, selbst bei Wiedergeburt vermerkt.
Glücklicherweise passiere ich nach dem Scan problemlos die Schleuse und trete in einen hell erleuchteten Hof. Mein Schulfreund aus der 1. Klasse, der eine steile Karriereleiter hinaufgeklettert war, ist jetzt Direktor dieser so geheimnisvollen Institution. Er hat mich beim letzten Klassentreffen — ach was sind wir alle so grausam gealtert — eingeladen, ihn bei Gelegenheit in seinem Allerheiligsten zu besuchen. Wie geehrt habe ich mich gefühlt. Herausgehoben aus der Menge der sterblichen Klassen-Kumpels. Ohne Schwertschlag in den Wissenschaftsadelsstand erhoben! Und das einzig nur, da ich grosses Interesse an seiner Arbeit bekundete, obwohl mein Job als nächtlicher Strassenbahnfeger einen unendlich tiefen Abgrund zwischen unseren Berufswelten zum Ausdruck bringt, auch mithilfe von wissenschaftlichen Mitteln kaum als überbrückbar gelten mag.
Das habe ich dann am wenigsten erwartet. Ein roter Teppich lag hinter der Sicherheitsschleuse, frisch ausgerollt, wie ich als Schmutz-Experte feststellte. Kein Stäubchen war darauf festzustellen. Mit offenen Armen empfing mich der Professor-Klassenkamerad. Umarmte mich voller Empathie am Teppichende, als wäre ich ein Staatsgast eines befreundeten Landes, das man sich einverleiben wolle.
“Willkommen, willkommen, dear Freund“, säuselte seine Stimme. „Wie glücklich ich mich schätze, dir mein Institut zeigen zu dürfen. Dir zu erklären, was wir hier treiben. Mit 266 Mitarbeitern suchen wir nach der Essenz des Lebens. Ein ungeheuerlich wichtiges Projekt, wie du dir vorstellen kannst. Vom Staatspräsidenten persönlich in die erste Priorität erhoben, mit unermesslichen, von mir bestimmten Staatsmitteln ausgestattet, was die Bedeutung unserer Forschungsziele klar unterstreicht. Kurzum, ich führe dich gern durch unsere Laborräume. Zeige dir, wie wir vorgehen. Werde dich in die Forschung integrieren. Deine entscheidende Rolle dabei vorführen. Nicht verführen, denn durch den Eintritt hier in unser Institut ist das nicht mehr notwendig. Bereits beschlossene Sache. Auch ohne dein ausdrückliches Einverständnis. Wie bei allen Eingeladenen.“
Ich nicke. Meine Hochachtung für den so Hochgestiegenen lässt keine Gegenrede, geschweige denn ein Ablehnen der ausgesprochenen Worte zu.
“Dann wollen wir mal“, fährt der Boss des Instituts fort. „Folge mir einfach! Haha, nicht zwei- oder gar mehrfach“, lacht der von mir Bewunderte herzlich mit einem leichten, aber versteckten strengen Unterton. Und ich gehe ihm, als sei ich sein Schosshündchen, brav hinterher. Durch lange Korridore, die hell erleuchtet sind, Treppenhäuser, die sich spiralförmig in die Höhe schrauben. Überall ist stets der gleiche Hinweis angebracht, als sei dies das Mantra des Instituts:
‚MENS SANA IN CORPORE SANO‘.
Mein Klassenkamerad, mit dem ich einst Verstecken spielte, meint dazu: „Uns ist ein gesunder Körper extrem wichtig! Deshalb gibt es hier keine Aufzüge. Nicht einmal für Waren. Das Hochtragen ist für ein gesundes Herz, das wir voraussetzen und trainiert werden muss, besonders wichtig.“
Endlich erreichen wir ein Hochplateau, in dem ein kühler Wind weht, der, so sehe ich erstaunt, von einer Art Gletscherzunge stammt, die hier die Wärme wegzuschlecken scheint. Mein Vorauseilender erkennt meine Verwunderung und erläutert: „Diesen letzten noch existierenden Gletscher aus den Hochalpen haben wir eingefangen und hierher transportiert, was äusserst beschwerlich war. Wir füttern ihn nun täglich mit der Essenz des Lebens, die wir extrahieren, um ihn am Leben zu halten. Was bisher gelungen ist, wenn auch mit grossem Aufwand verbunden. Denn die Essenz lässt sich nicht einfach herstellen. Sie benötigt Lebenswillen.“
Ein maliziöses Lächeln geht jetzt über seine Lippen. Und er fährt fort, diesmal mit leiser Stimme: „Übrigens, ich bin heute besonders glücklich, denn du bist der letzte unserer Klasse, der das Institut besuchen darf. Gruppen, die dieselben Erinnerungen haben, doch verschiedenste Berufserfahrungen mit sich tragen, sind besonders geeignet, die Essenz des Lebens zu erzeugen. Sei beruhigt, die Gletscher-Kälte, denk nur an Ötzi, bewahrt die Strukturen über Jahrtausende, so ist eine beinah ewige Klassenzusammenkunft garantiert. Leider wird nur einer fehlen, und das bin ich. Darf ich dich bitten, mich zu entschuldigen …“ Und da greift die Gletscherzunge schnalzend nach mi ...
Und als Bonus ein weiterer DREISATZROMAN aus meiner Feder:
G L E T S C H E R Z U N G E
Es züngelt
Der Gletscher
Warm und heimisch
Nagt am eigen Körper fein.
Geniesst dabei den Sonnenbogen
Ohne Sorgen um den Boden
Der ihm rasch entzogen.
Heissa und Trallala
Stimmt alles nicht so genau
Ich wachse mit den Wassermassen
Die kalt und alt zu Eis erstarren werden einst.