Zei(g)tung
Kalt war‘s. Ich hatte mich nicht warm genug für diesen Winterrückfallstag angezogen. Wer wäre denn auf die Idee gekommen, dass das Thermometer in die Minus-Zone fallen würde nachdem wir bereits Mai schrieben. Ja, die Minus-Zone, bei Börsenindizes haben wir uns selbst im Hochsommer daran gewöhnt, aber doch nicht bei den Mai-Temperaturen! Verkehrte Welt, dachte ich. Klimawandel! Osterglocken an Weihnachten, Schnee im Mai. Doch nichtsdestotrotz froren meine Zehen beinahe ab, denn ich hatte in der Morgenfrühe, dem ersten Lichtschimmer am Horizont, mein Beruf als Lokomotivführer verlangt das von mir wenn ich zur Frühschicht eingeteilt werde, den Griff zu den Sommersocken getan. Ein eindeutiger Fehlgriff wie es sich jetzt herausstellte. Nun ja, Fehlgriffe kommen vor. Besser einen solchen als einen Fehlgriff im Beruf. Doch einen Fuss stets auf dem Totmannpedal zu halten, da sonst eine Notbremsung eingeleitet wird, ist für unterkühlte Zehen auch nicht das Optimum das frühmorgens zu erreichen ist. Besonders wenn die Unterhaltswerkstatt die Heizung im Führerstand des nahenden Sommers wegen bereits in Revision genommen hat. Nicht an Zehen denken, befehle ich mir selbst. Nicht ablenken lassen! Konzentration! Doch wie das Senden von Signalen der halb erfrorenen Zehen, die sich mit aller Gewalt gegen die Gefühllosigkeit wehren, abstellen?
Da nützt auch kein noch so rotes Hirnsignal. Achtung, da vorne rot! Bremsmanöver einleiten. Sanft. Will die Leidensgenossen anderer Frühschichtler nicht unsanft aus ihren Träumen reissen. Gut, dass der Zielbahnhof nicht mehr weit entfernt ist. Werde mir die Füsse, nein die Zehen vertreten können. Vertreten? Zehen verkaufen doch nichts. Ach, trotz Kälte vertanzen sich meine Gedanken in Bockssprüngen. Runterfahren. Realität betrachten. Anfahren. Landschaft betrachten. Blütenträume die bestimmt noch mehr frieren als ich. Gar dem Garaus entgegen dämmern.
Endlich der Endbahnhof in Sicht. Über Lautsprecher, um gute Laune zu verbreiten mit heiterer Stimme, obwohl diese leicht angefroren ist, diesen bekanntgeben. Ausstiegsseite nicht vergessen. Systeme abschalten. Raus aus dem Führerhaus. Der Pendler-Kombination entlang marschieren. Stramm und schnell. Die andere Seite des Zugs erreichen um die Fahrt in der anderen Gegenrichtung, hoffentlich mit wenig Blütengaraussichtung, wiederholen. Stossgebet, dass Heizung in diesem Führerstand noch nicht in technischer Aufbereitung. Schlängle mich durch die ein- und aussteigenden Fahrgäste, meinen Gästen durch.
Da stösst mich ein junger Kerl, muss so gegen 20 sein, mit lockerem Shirt gewandet und übertätowierten Armen an: “Hier die neue Zeigtung. Habe diese ausgelesen. Vielleicht vertreibt sie dir dann die Zeit”. Obschon ich keine Zeit zu vertreiben habe nehme ich diese an. Frühstückspausenlektüre warum auch nicht. Doch weshalb sagte der Bursche Zeigtung? Sprachfehler? Oder irgendein verkannter Dialekt. Twensprache? Wer weiss schon wie die Jugend heute kommuniziert. Ein starker Kaffee könnte meine Zehen wecken. Einen Euro herausklauben. Automat bedienen. Dampfendes Getränk. Brennend heisser erster Schluck. Erweckungsruf gelungen! Rückfahrt starten. Fussheizung noch in Betrieb! Was freue ich mich. Am Zielbahnhof 18 Minuten Aufenthalt. Zeit für ein frisches Croissant und Blick in die Zeitung! Wie das schmeckt. Zeitung lesen. Was ? Beim Aufschlagen, nein, das gibt es nicht, fallen kalte Schneeflocken aus dem Zeitungsbund. Die fette Schlagzeile:
‘SIE ZEIGT ES UNS:FRAU HOLLE IM SITZSTREIK VERWEIGERT SOMMERSCHLAF’.
Meine Zehen beginnen erneut zu frieren. Werde die Zeigtung in meinen Tiefkühler legen. Sehen wer gewinnt!