Meine kostenlose Kurzgeschichte der Woche
An dieser Stelle präsentiere ich Ihnen im wöchentlichen Wechsel die (kostenlose) Kurzgeschichte der Woche, auch als Pdf-Download.
Im Archiv können Sie dann auch stöbern und "alte" Kurzgeschichten lesen und anhören.
Hier die aktuelle Kurzgeschichte der Woche (auch als Download Pdf >>) :
Das Fünfte Gesicht
Als Kind hörte ich die Erwachsenen, in meinen Augen waren es Riesen die alles konnten, selbst fliegen, nur wollten sie es mir nicht zeigen, aus Angst ich würde es nachmachen und es nicht können, also abstürzen, hörte ich die Erwachsenen bei den Mahlzeiten oft vom vierten Gesicht sprechen. Sie flüsterten dann und setzten ehrfürchtige Gesichter mit beinahe zu Schlitzen verzerrten Augen auf, ich bemerkte bei meiner Mutter auch ein leises Zittern ihrer so prächtig streicheln könnenden Händen. Bei Vater sah ich, wenn diese Worte wie ein plötzlicher Steinschlag vom Gesprächsgipfel kollerten, einzelne Schweissperlen auf seinem haarlosen Vorderkopf wachsen, als seien es Blüten einer unbekannten Art von Blumen, was auch sofort eine dicke, hässliche Stubenfliege anzog, die er dann mit seinen Pranken verjagte und dadurch das Wachstum der Perle unterband.
Mistfliege, dachte ich jedes Mal, denn zu gerne hätte ich gewusst, wie gross die Blüte anzuwachsen vermochte, ob diese dann einen Kopf mit vier Gesichtern bekäme, natürlich mit einem unerbittlichen Riesenmund mit eng verschlossenen, von meinem Vater abgekupferten Lippen, bis einer dieser väterlichen Sprach- und Essutensilien sich wie eine Riesenhöhle öffnen und meinen Vater lebend verschlingen würde. Logischerweise, nach Kinderlogik jedenfalls, wäre es das fünfte Gesicht gewesen das dies vollbrachte, das Gesicht, das nur in meiner kindlichen Fantasie lebte, sprachen doch die Erwachsenen einzig vom vierten Gesicht und das fünfte war meiner Fantasie vorenthalten, die zu diesem Zeitpunkt ungebremst in voller Hochblüte stand.
Doch kehren wir, da der Vater nach solchen eigenen Gedankenreisen in meine innere Welt noch am Tische sass und die Fliege wild über seiner Glatze kreiste, auf das Erscheinen der nächsten Schweissperle wartend, zum vierten Gesicht zurück. Ich vernahm, mit wie zu einem Scheunentor aufgesperrten Ohren, ja, ich stellte mir vor, dass die Worte Fuderweise auf riesigen Holzkarren, gezogen von sechs Schimmelpilzen, denn Schimmel alleine waren mir zu alltäglich, in mein aufnahmebereites Hirn gefahren und dort abgeladen, durch eine Sortiermaschine gedrückt wurden, die grosse von kleinen Worten trennte, wichtige von unwichtigen unterschied, letztere auf den Gedankenmüll ausspuckte, wo diese nach Durchlaufen – ja diese Worte konnten schnell laufen – eines Schnellgärungsprozesses sich zu Bandwurmsätzen formten, die wiederum meinen ganzen Körper nachts bevölkerten und Ursache meiner krausen Träume waren.
Ich vernahm also all die Worte die sich um dieses rätselhafte vierte Gesicht drehten voller Verwunderung und innerer gieriger Neugier. Da soll ein Flugzeugabsturz, ein Lotteriegewinn, ein Erdbeben vorausgesagt worden sein. Von Hexerei und Seherei war die Rede. Ehen und Ehebrüche wurden prophezeit. Ferienliebschaften erkannt. Zukunftskatastrophen und Kataströphchen durch dieses unheimliche vierte Gesicht, das ich nie zu Gesichte bekam, entdeckt und benannt. Unheimlich war das: Mehr als unheimlich. Gespenstisch.
Und da das vierte Gesicht mich als ich in die Pubertät kam nächtlich besuchte, mir schwanvolles auf silbernen Serviertafeln anbot, fürchtete ich mich so davor, dass ich meine Träume frisch und noch warm meiner Mutter beim Frühstück erzählte. Als dann regelmässig, zwar mit einer Zeitverzögerung alle Träume in der Wirklichkeit eintrafen, wurde mir Angst und Bange. Ich behielt die Träume, da mich Vater und Mutter zu einem Geisteraustreiber, sie glaubten an Spuk und Geister, zur Behandlung anmelden wollten, behielt ich die Albträume fortan für mich, frass diese in meine Seele hinein und litt fürchertlich, denn all das Furchtbare im Voraus zu erleben, dieses dann in die Wirklichkeit wie ein Wurm in eine reife Zwetschge eindringen zu sehen und zu beobachten wie dieser dort sein Unwesen trieb, brachte mich an den Rand meiner kindlichen Kräfte.
Mein Hirn, mein Kopf ähnelte einem Sammelsurium der Zeitungsrubriken ‘Unglücksfälle und Verbrechen' aller gedruckten Zeitungen des Erdkreises. Wie schwarze Raben bevölkerten die Nachrichten meine Seele, erdunkelten mein Wesen, sodass selbst meine als Kind hell blonden Haare abdunkelten und meine früher blauen Augen rabenschwarz, sich den Vögeln meines Inneren anpassten, mich in Einsamkeit versinken liessen. Das Entsetzlichste am träumenden vierten Gesicht war die Tatsache, dass ich mit niemandem darüber sprechen, niemanden warnen, also keines der Träume zum Ungeschehenwerden umstimmen konnte.
Erst als ich in der vierten Klasse, im vierten Monat des Jahres, ein Zeugnis mit lauter Vieren nach Hause trug, die Eltern mit Vorwürfen mich bis zum vierten Wirbel eindeckten und ich nicht anders konnte, dies dem vierten Gesicht zuzuschreiben, von dem ich so viel in der Kindheit vernommen und das mich so leiden liess, es dann zu diesem Zeitpunkt aus meinem Leben ein für alle Mal verbannte und mich von da an dem freundlichen Fünften Gesicht, das meine Fantasie mir baute, voller Inbrunst zuwandte. Umrahmt ist es noch heute von fünfblättrigen Kleeblättern, fünffingrigen schlingenden Zeigefingern die den Weg mir weisen wollen. Doch höre ich nur auf meine grosse linke Zeh die aufs Herz zeigt und mich mit dem fünften Gesicht durch die Achterbahn des Lebens führt.