Meine kostenlose Kurzgeschichte der Woche
An dieser Stelle präsentiere ich Ihnen im wöchentlichen Wechsel die (kostenlose) Kurzgeschichte der Woche, auch als Pdf-Download.
Im Archiv können Sie dann auch stöbern und "alte" Kurzgeschichten lesen und anhören.
Hier die aktuelle Kurzgeschichte der Woche (auch als Download Pdf >>) :
Buchwanzen
Als Schriftsteller wurde ich hellhörig als ich im überfüllten Regionalexpress meine Sitznachbarin zu
ihrer Freundin sagen hörte: „Nimm dich in Acht vor Buchwanzen ...“. Die weiteren Sätze wurden von
der Ansage des nächsten Halts und seiner Anschlussmöglichkeiten aufgefressen. Oder ausgesaugt.
Hätte ja zu den Buchwanzen gepasst. Buchwanzen? Was könnte das sein? Was bedeuten? Nichts
Gutes, dachte ich, als ich die Schreckenszüge sah, die sich über das Antlitz der älteren Dame, der
Sitznachbarin der Sitznachbarin, ausbreiteten. Das sorgfältige Makeup überdeckten, ihr Aussehen
augenblicklich um Jahre älter erscheinen ließen. Musste grausam sein von Buchwanzen angefallen zu
werden. Und ich als Buchverwandter, Vater von Büchern konnte, so warnte meine bunte Fantasie
(die mich stets in den griffigen Krallen hält) meine linke Hirnhälfte, ich sei bestimmt auch bald davon
betroffen. Betroffen ohne davon zu wissen. Ohne die Erkenntnis der Gefahren die in meinen und
anderen, möglicherweise allen Büchern lauerten. Nur darauf warteten mich anzufallen. Mich zu
vernichten. Mich auszusaugen. Mir nicht Blut, sondern Worte, ja gar Sätze zu entwenden. Waren das
die Schuldigen die meine Schreibblockade verursachten? War ich auf deren Spur? Konnte ich endlich
wieder in meine Schreiblust zurückfinden? Nicht nur Lust, nein, Pflicht. Denn wie sonst sollte ich
mithelfen meine Familie zu ernähren? Die Last nicht einzig meiner Gattin überlassen, deren mickriges
Gehalt als Callcenter Mitarbeiterin vom heimischen Herd aus, uns mit den zwei Kindern, ein knappes
Schwimmen im Lebensmeer ermöglichte.
Den Abgrund immer vor Augen, der jederzeit sich öffnen, dass knapp an der Wasseroberfläche
Schwimmen beenden konnte. Ich muss also jetzt hier von meinem harten Regionalexpress Sitz aus
meinen Ohren spitzen. Der Sache auf den Grund gehen. Ach, was für ein unpassender Vergleich für
einen beinahe entkräfteten Schwimmer im Ozean des Lebens. Der Lärmpegel hoch. Werde
versuchen müssen von den Lippen abzulesen. Aber aufpassen! Zu nahe Heranrücken könnte auch als
unanständig interpretiert werden. Und dann das Ergebnis ein Auszug aus meinem Hör- und
Sitzbereich. Ein Flüchten der zwei in das Untergeschoss. Ich allein gelassen wie ein begossener Pudel.
Allein mit meinen entfachten Ängsten. Dem Süßen Meer der Erkenntnis entzogen. Denn ein
Nachsteigen, besser ausgedrückt ein Absteigen, hinter den beiden Passagierinnen her, wäre als ein
erneutes Verdachtsmoment auf Annäherungsversuche zu werten. Also, Anstand, Abstand halten,
trotz Lippenlesen. Leichter gesagt als getan. Dazu blendet die Morgensonne. So kann ich nur
Bruchstücke entziffern. Hoffe mir daraus ein Bild zu zimmern. Keinen Käfig. In dem sitze ich bereits.
Nein, ein Entkommens Bild aus dem so tonnenschwer auf mir lastendem Problem. Den Buchwanzen!
Ich muss es wissen. Der einzige Weg: Die Direttissima! Auch wenn in dieser zahllose Absturzgefahren
lauern. Wie in den Buchwanzen, vor der mich meine Hirnströme immer stärker warnen. Also
ansprechen. Aber wie? Mit: ‚Entschuldigen Sie‘? Halt, wäre es nicht besser mit dem Wort ‚Sorry’ zu
beginnen? Verwurf! Heftig. Keine Anglizismen! Also doch: ‚Entschuldigen Sie! ’. Mit einer
Entschuldigung zu beginnen macht dich schuldig, kabelt mein Sympathikus, oder welcher
Nervenstrang es immer ist, direkt meiner sonst doch so losen Zunge zu, die sich sogleich aus
Befürchtung vor Strafmaßnahmen im Zaume hält. Also einfach: ‚Was wissen Sie über Buchwanzen?
Bin lernbegierig!‘ Macht sich immer gut lernbegierig zu sein.
Da, es darf nicht wahr sein, stehen die beiden Damen auf. Nicken mir zu. Die jüngere wünscht mir
einen angenehmen Tag. Entschwinden aus meinem Blickfeld. Lassen mich mit dem Rätsel und dem
Zaumzeug der Zunge, das ich ins Pfefferland wünsche, allein. Können Sie mir auf die Buchwanzen
helfen?