Hans Köchler vermass Seen. Ob klein oder gross. Mit Schiffen, Bojen, Uferfixpunkten.
Und natürlich exaktestem Vermessungsgerät. Hans Köchler war Seevermesser. Diplomierter See-Vermesser.
Um nicht geblendet zu werden, verwendete er bei Sonneneinstrahlung einen roten Sonnenschirm.
Fixpunkt, Planquadratsystem und Koordinaten gehörten zum Alltag wie der Frühstückskaffee oder
das Achtminutenei als Zwischenverpflegung um Punkt 10.00 und 16.00 Uhr. Das Aufschlagen des Eis
an der Spitze des Vermessungsinstrumentes war jeweils eine Wohltat und tönte mit seinem Klaackk wie
Musik in Köchlers Ohren. Mit seinen Augen beobachtete er jeweils die sich bildenden, nicht vorausberechenbaren Risse.
Zu gern hätte er das System erforscht, wie diese sich bildeten, doch trotz seiner dreiundzwanzigjährigen Berufspraxis, in der er wohl - Ferien abgezogen - über 11'000 Eier aufgeschlagen hatte, fand er keine gültige Grundregel.
Als Praktiker beschloss er, zu diesem Zeitpunkt, da er keine 23 Jahre Seevermessung mehr vor sich hatte, sich einem neuen Geheimgebiet zu widmen, von dem sein Arbeitgeber, wie übrigens auch von den regelmässigen Eiern, nichts wusste. Er wandte sich der Seelenvermessung zu. Immer Punkt 10.00 und 16.00 Uhr schlug er fortan eine Seele an der Spitze seines Vermessungsinstrumentes auf. Vermass. Von Fixpunkt zu Fixpunkt in Koordinaten. Mass die Risse.
Eines Morgens kurz nach 10.00 Uhr fand man ihn am Boden liegend neben seinem Vermessungsgerät. Mit zerrissener Seele.
"Vermessen" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:
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