Kurzgeschichte der Woche

Habakuk

“Das ist alles Habakuk”, sprach mich die Frau in der Straßenbahn an. Attraktiv war sie. Aber ihre stahlblauen Augen starrten, obwohl mich diese ansahen, ins Leere. Beängstigend war das. Und ich saß so eng neben ihr. Eingestiegen war die Dame kurz nach dem Start der Bahn von deren Endschleife. Hatte nicht lange gefackelt und obwohl ich der einzige Passagier im Fahrgastraum war, sich einfach neben mich gesetzt. Gleichwohl sämtliche Sitzplätze frei waren. Seltsam fand ich das bereits als sie sich neben mich setzte. Unheimlich wurde es mir als ich ihren leeren Blick sah. Als sie den Satz “das ist alles Habakuk” betont langsam aussprach und sich beinahe an mich schmiegte, wurde es mir zu viel. Ich stand, mich bei ihr höflich entschuldigend, da die Frau mir Platz machen musste, auf und setzte mich ganz hinten in der Bahn, dort wo es einen Einzelsitz für Behinderte gab, nieder. Mit Erstaunen und leichtem Grauen sah ich dann wie auch sie aufstand. Mir folgte. Ihren Gehstock, erst jetzt bemerkte ich, dass sie einen solchen, trotz ihres jugendlichen Aussehens, bei sich trug. Dieser wurde neben mir mit einem Handgriff in eine Jäger-Sitzfläche verwandelt. Erneut blickten mich die leeren eisig blauen Augensterne durchdringend an. Ich schämte mich. Saß ich doch auf dem Behindertensitz. Stand doch der Stockträgerin zu. Nicht mir. So erhob ich mich erneut. Drückte den Halteknopf. Wollte aussteigen obwohl mein Fahrziel noch weit vor mir lag. Konnte die nächste Trambahn besteigen in der ich nicht behelligt würde. Als Rentner besaß ich ja alle Zeit der Welt. Doch die Dame setzte sich nicht auf den nun freien Behindertensitz. Nein, sie stand auf. Stützte sich auf den Stock, den sie in einen solchen zurück verwandelt hatte, und folgte mir als ich an der Haltestelle das Fahrzeug verließ.

Da beschloss ich ein Stück des Wegs auf Schusters Rappen zurückzulegen. Bin ja sportlich. Und durch meine täglichen Fußmärsche von im Minimum 10000 Schritten (soll das Leben verlängern an dem ich so hänge) schnell unterwegs, sodass die Stockbewehrte mir niemals sollte folgen können. Drehte mich nach der Frau um. Schien mir gealtert. Oder war es die grelle Sonne die das Gesicht beleuchtete und deren Runsen so richtig zur Geltung brachten. Ließ ein Abschiedslächeln, das ich ohne jeden Hohnanschein aufleuchten ließ, als Geschenk der mir Nacheilenden zurück. Der Abstand zu der mich Verfolgenden wurde, nein, nicht größer, immer kleiner. Es war kaum zu glauben wie rasant der Stock auf den harten Asphaltboden traf. Der Stock der in seinem Tack, Tack, Tack alle 6o Mal sich unterbrach. Jedes Mal wenn die Frau, doch jetzt gebückt als sei sie eine Mummelgreisin, mit diesem auf mich zeigte. Bis dieser, das war der größte Schrecken meines langen Lebens, mich im Rücken berührte.

Ich drehte mich voller Schrecken um. Sah in ihre Augen die jetzt wie verwandelt so viel Wärme und Mitgefühl ausstrahlen. Alle Falten waren aus dem Gesicht verschwunden. Sie beugte sich vor. Ganz nahe an mein rechtes Ohr das noch weit besser hörte als das linke und sprach: ”Das ist alles Habakuk, siehe, der Aufgeblasene, unaufrichtig ist seine Seele in ihm! “Und ich erinnerte mich an meinen Religionsunterricht den ich vor 70 Jahren zu besuchen hatte und damals vom Propheten Habakuk vernommen hatte. Nur der war ein Mann. War die Überlieferung dem Männlichkeitswahn verfallen, Habakuk eine Prophetin? Und ich ein aufgeblasener alter Mann dem die Luft bald ausgehen wird?




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G E S T A T T E N

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Ein Kommentar zu dieser Kurzgeschichte:

Am 21. April 2017 schrieb ein anonymer Leser:

"Lieber François. Herzlichen Dank für die brillant geschriebene Kurzgeschichte."


"Habakuk" als Tondokument, vorgelesen von François Loeb:





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